Hauptinhalt
Der Brückenbauer
Anonyme Sorgentelefone sind bei psychischen Belastungen eine Hilfe. Persönliche Kontakte und Vertrauen sind aber wichtiger. Warum, erzählt der Dozent Stefan Paulus im Interview. Seit über drei Jahren forscht er zum Thema «Burnout-Prävention in der Landwirtschaft».

Was hat Sie zu dieser Studie motiviert? Haben Sie selbst einen landwirtschaftlichen Hintergrund?
Nein, ich komme aus einer Bergarbeiterfamilie. Als ich vor zehn Jahren ins Appenzell zog, war ich zunächst von der Landschaft und vom landwirtschaftlichen Brauchtum dieser Region fasziniert. Später erfuhr ich, dass ausgerechnet dort die Selbstmordrate unter den Landwirten überdurchschnittlich hoch ist. Das liess mir keine Ruhe mehr. Ich wollte den Menschen, die für die Gestaltung dieser Kulturlandschaft mit verantwortlich sind, etwas zurückgeben, sie mit meiner Arbeit unterstützen.
Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?
Dass es relativ viele professionelle Angebote gibt, diese aber zu wenig genutzt werden. Für die Betroffenen, die meist über 50 sind, spielt die Anonymität nur eine untergeordnete Rolle. Für sie zählt, dass die Beratenden «ihre Sprache sprechen» und sie Vertrauen zu ihnen haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Männer meist nicht gerne über ihre Probleme oder Gefühle reden - und schon gar nicht anonym am Telefon.
Ihr Ziel ist es, ein Netzwerk aufzubauen. Wer wird Teil davon sein?
Uns wurde klar, dass es im bäuerlichen Umfeld Menschen gibt, die einen sehr guten Draht zu den Landwirten und Landwirtinnen haben: Mitarbeitende vom Maschinenring, Treuhänder, Besamungstechniker und Tierärzte zum Beispiel. Sie haben über die Jahre ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und könnten rechtzeitig erkennen, wenn es negative Veränderungen im Hofleben gibt. Vorausgesetzt, sie werden geschult und befähigt, eine Brücke zu professionellen Angeboten zu bauen. Ziel ist es, möglichst früh eine ambulante Behandlung einzuleiten, um einen stationären Aufenthalt zu vermeiden. Denn für Selbständigerwerbende ist ein Arbeitsausfall zusätzlicher Stress.
Welche Faktoren können zu einer Erschöpfungsdepression, einem Burnout, führen?
Dauerhaft lange Arbeitszeiten, auch wegen eines Nebenjobs, sind eine Belastung. Hinzu kommen oft Geldsorgen aufgrund von Schulden sowie Probleme in der Beziehung. Frauen leiden oft durch die Doppelbelastung, zum Beispiel weil sie sich zusätzlich zur Arbeit auf dem Hof noch um Kinder und Kranke kümmern.
Woran erkennen Betroffene selbst, dass sie gefährdet sind?
Symptome sind ständiges Grübeln, nicht gut einschlafen und durchschlafen können, obwohl man erschöpft ist, gereizt sein oder auch der Wunsch, sich nur noch zurückziehen zu wollen. Körperlich kann sich der Stress in Rückenschmerzen, Tinnitus, Unkonzentriertheit oder Sehstörungen zeigen.
Auf welche Alarmzeichen sollte das Umfeld zudem reagieren?
In den Gesprächen wurde mir bewusst, wie wichtig den Landwirten das Tierwohl ist. Ein Tierarzt oder Besamungstechniker sollte deshalb hellhörig werden, wenn die Tiere nicht mehr gut versorgt sind. Ein Treuhänder weiss um die finanzielle Situation des Hofes und kann beratend eingreifen, wenn risikoreiche Investitionen spürbar zur Belastung geworden sind.
Gibt es «Gelingfaktoren»?
Tatsächlich spielen die Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Wenn der Betrieb finanziell gut aufgestellt ist und die Arbeitskraft gut eingeplant werden kann, sind solche Problematiken kein Thema. Wichtig ist auch, dass schon junge Menschen in der landwirtschaftlichen Ausbildung darüber informiert werden. Zu einem Zeitpunkt, in dem sie sich über solche Themen eigentlich noch keine Gedanken machen. Damit sie von Anfang an lernen, ihre Arbeitskraft effizient einzusetzen, um auch genügend Ruhezeiten zu haben.
Was kann man im Alltag tun, um neue Ressourcen aufzubauen?
Das ist sehr individuell. Um überhaupt nicht in eine Negativspirale zu geraten, ist es wichtig, auf sich zu hören. Und Ruhezeiten einzuhalten, um Körper und Geist zu entspannen, auch während des Tages. Diese fünf oder zehn Minuten kann jeder in seinen Alltag einbinden. In der Freizeit was anderes sehen, wandern gehen, musizieren, … Und Freundschaften pflegen, sich austauschen, offen sein und den anderen auch mal fragen, wie es ihm geht. Manchmal stellt sich dann heraus, dass man vielleicht in einer ähnlichen, gerade schwierigen, Situation ist. Lernen, darüber zu reden. Wenn man sich ein Bein bricht, spricht man ja auch darüber.

Der Mensch hinter der Studie
Prof. Dr. habil. Stefan Paulus arbeitet als Dozent am Institut für Soziale Arbeit und Räume IFSAR an der Hochschule St. Gallen. Was sind Arbeitsbelastungen und wie gehen Menschen damit um? sind Fragen, mit denen er sich beschäftigt. Die Studie zur Burnout-Prävention in der Landwirtschaft entstand in enger Zusammenarbeit mit Bauernverbänden und dem Bundesamt für Landwirtschaft BLW. Um eine überkantonale ostschweizerische Plattform zur Burnout-Prävention zu schaffen, haben verschiedene Institutionen eine Charta unterzeichnet.